aus: Mensch und Kleidung, Doppelheft 80/81, Winterbach 1999, S 14-21, ISSN 0176-6856
Anmerkung: Der Originalartikel war nur mit 6 Abbildungen versehen

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Vom Leben in Zelten - das maurische Schwarze Zelt

Wolfgang Creyaufmüller

Wenn wir unser ganzes Leben in Häusern verbringen, vergessen wir doch allzu leicht eine ganz andere Art des Wohnens - die im Zelt. Wir Menschen in Mitteleuropa kennen eigentlich nur das Haus - wir wohnen dort, wir arbeiten in speziellen Häusern, die nur diesem Zweck dienen, wir gehen zur Schule (auch ein Haus mit Sondernutzung), wir feiern Feste in Sälen, wir pflegen die Religion in Kirchen - alles im weitesten Sinne des Wortes: Häuser. Geschieht etwas unerwartetes - ein Erdbeben in Oberitalien, der Krieg im Kosovo - und sind die Häuser zerstört, taucht aus dem Verborgenen eine völlig andere Infrastruktur auf. Binnen weniger Tage können Hunderttausende in Zelten untergebracht werden, in Zelten, die zuvor unsichtbar waren, irgendwo gelagert.

Flüchtlingscamp

Bild aus den Aachener Nachrichten vom 8-4-1999

Flüchtlingslager in Mazedonien (Der Spiegel, 22-1999, S. 172f., © SIPA-Press)

Als Flüchtlingsunterkunft ist das Zelt allgemein bekannt und geschätzt. Hilfeaufrufe bitten um Geld und Decken. Hier kristallisieren sich die menschlichen Urbedürfnisse heraus - ein Zelt, eine Decke.

Menschen, die ihren Wohnort öfters wechseln, wussten schon immer die flexible Behausung zu schätzen. In Nordafrika und im Orient finden wir seit alters her einen Zelttypus, der aus einer Über Stangen ausgebreiteten und gespannten großen Decke besteht. Ein derartiges Zelt kann von jeder Familie selbst angefertigt werden und bei Bedarf auch repariert. Bezüglich der Zeltformen im Detail, der Farben der Stoffbahnen, der Verzierungen, der Art und der Anordnung der Zeltstangen gibt es deutliche Unterschiede. Der Kenner kann ein Zelt einer Ethnie oder einer Region zuordnen. Als Oberbegriff hat sich aber, nach vorherrschenden Merkmalen, der des "Schwarzen Zeltes" herausgebildet. Dieser Typus kommt vor von der Westsahara bis Tibet.

Die folgenden Zeilen sollen das Zelt der Mauren in der Westsahara näher beleuchten.

Wenn man sich von der Ferne einem Zelt in der Westsahara nähert, sieht man zuerst seine Spitze, wie bei einem Schiff auf hoher See. Üblicherweise trägt die Spitze eine Verzierung, einen Dekor aus weißen Fäden, der stammesspezifisch ist (wie die Flagge an der Mastspitze die Herkunft des Schiffes signalisiert).

 Zelt im Adrar

Zelt im Adrar in einer kleinen Senke liegend

Etwas näher gekommen ergibt sich der Eindruck eines schwebenden Daches über dem Wüstenboden. Das charakterisiert das westsaharische Zelt auch am besten - es ist ein schwebendes Dach, gespannt von Seilen, gehalten von einem Zeltpfosten(paar). Die Zeltstangen - es sind stets zwei - werden als "A" aufgestellt und haben eine gemeinsame Spitze. Sie wirken also für die Plane wie eine einzelne Stange im Zentrum des Zeltes.

Schwebendes Dach

"Schwebendes Dach" (Foto: H. Ritter)

Von den 4 Ecken spannen sich die Hauptleinen nach außen, nicht ganz in der Diagonalen, aber doch deutlich schräg. Sie sorgen für die Form des Zeltdaches. Die übrigen Spannleinen gestalten die Details. Mit den Augen des Physikers: Der ganze Planenaufbau ist eine Zugspannungsgestalt. Das muss berücksichtigt werden bis in die Form des Gewebes hinein.

Zelt im Adrar

Zelt im Adrar mit Flachwebstuhl

Nach diesen einführenden Betrachtungen sehen wir uns das westsaharische Zelt im Detail an.

Auf einem Flachwebstuhl werden die Bahnen der Plane Stück für Stück gewoben. Ein Standardmaß mit einer gewissen Bandbreite nach oben und unten ist: Länge 8m, Breite 80 cm, also ein Längen/Seitenverhältnis von 10:1. Etwa 8 Bahnen, die auf ihren Breitseiten zusammengenäht werden, ergeben eine komplette Zeltplane. Die Schwankungsbreite all dieser Maße ist beträchtlich: Es gibt sehr kleine Familienzelte (selten) mit 3-4 m langen und sehr große Scheich- oder Versammlungszelte mit über 10m langen Zeltbahnen. Die Bahnbreite schwankt zwischen 45 und über 80 cm.

Das Rohmaterial ist Kamel- und Ziegenhaar. Dromedare und Langhaarziegen gehören zur Grundausstattung eines Nomadenhaushaltes. Die Herden werden zwar in der Regel auf getrennten Weiden gehalten, aber keine Familie, keine Stammesgruppe kann mit nur einer Tierart sinnvoll wirtschaften.

Die Wolle wird meist gemeinsam kardiert. Dadurch entsteht ein einheitliches Farbgemisch - häufig dunkelbraun (trotzdem spricht man vom sogenannten "Schwarzen Zelt"!).

Die kardierte Wolle spinnen die Frauen mit der hölzernen Handspindel. Der lange Spindelschaft wird hierzu auf dem nackten Oberschenkel abgerollt. Aus anderen Gebieten Nordafrikas ist auch das Spinnen mit frei hängender Handspindel bekannt oder die Rotation der Spindel in einer Holzschüssel. Aus zwei auf einen Stock gesteckten Fadenknäueln wird gezwirnt. Bei allen von mir untersuchten Fäden war der Faden S-förmig gedrillt und Z-förmig gezwirnt.

Das Weben der Zeltbahnen erfolgt auf dem Flachwebstuhl, der direkt auf der Erde aufliegt. Lediglich die größeren Steine werden bei der Präparation des Platzes zur Seite gefegt.

Flachwebstuhl

Flachwebstuhl für eine Zeltbahn

Zwei Querstangen in ca. 8m Abstand werden von den Kettfäden umschlungen, wobei die Kette ohne Abstand dicht gelegt wird. So entstehen zwei dicht Längsreihen im Abstand der Stabdicke. Die Querstangen erfüllen die Funktion des Kett- bzw. Warenbaums, obwohl auf sie nichts aufgewickelt wird. Sie spannen nur die Kette und können bei Bedarf leicht versetzt werden, falls die Spannung korrigiert werden muss.

Die Fachbildung erfolgt mittels Litzenstab, dessen Schleifen die Fäden der unteren Kettlage umfassen. Das natürliche Fach ist der Raum zwischen unterer und oberer Kettfadenlage, das künstliche Fach entsteht, wenn der Litzenstab hochgezogen wird und die untere Lage über die obere hebt. Die Weberin legt hierzu den Litzenstab auf zwei Steinen ab.

Webstuhldetail

Flachwebstuhl mit Litzenstab

Der Ketteintrag ist auf einen Schützenstab aufgewickelt und wird durch das jeweilige Fach gesteckt. Der "Anschlag" geschieht mittels eines Dorns. Die Bindung ist eine einfache Leinwandbindung.

Webstuhldetail

Flachwebstuhl (Detail)

Obwohl die Arbeit im Hocken am Boden erfolgt und keine mechanischen Hilfsmittel eingesetzt werden, geht das Weben erstaunlich schnell vonstatten. Eine einzelne Bahn kann innerhalb weniger Tage hergestellt werden. Dies konnte ich an einem Modell eines Webstuhls ermitteln, das in natürlicher Größe auf einer Saharaausstellung aufgebaut wurde. Bei der hierzu verwendeten Schafstrickwolle musste die Kette im Verlaufe des Webens um über 15 cm nachgespannt (verlängert) werden. Eine derartige Wolle wäre folglich viel zu weich, um dem großen Zug eines Wüstenzeltes standzuhalten.

Die einzelnen Bahnen näht man mit einem Überwendlingsstich zusammen, der auch leicht getrennt werden kann. So lassen sich einzelnen schadhaft gewordene Bahnen ohne Probleme auswechseln. Die Webkanten bilden einen guten und stabilen Abschluss der Plane. Gespannt wird das Zelt aber in Kettfadenrichtung. Um hier den Abschluss zu verstärken, wird die Bahn um eine Kordel herumgenäht. Dieser Abschluss ist so stabil, dass er ohne weitere Verstärkung die hölzernen Ösen hält und über sie die ganze Zugspannung auf die Zeltbahn verteilt.

Zweifarbige Zeltbahn

Zweifarbige Zeltbahn (breiter Zierstreifen)

Naht zweier Zeltbahnen

Naht zweier Zeltbahnen mit Überwendlingsstich

Holzöse

Zeltecke mit hölzerner Spannöse

Der Zelteingang ist stets auf der Querseite, also auf der breiten Seite. Er wird über zwei Spanngurte hochgehalten, die in Schussfadenrichtung über etwa 1½ Bahnen genäht werden.

Spanngurt

Spanngurt mit Stahlöse

Um die Zeltplane vor Abrieb zu schützen, stecken die Zeltstangen häufig in einem leicht gerundeten Firstholz. Dessen Größe bestimmt die Form des Giebels. Nomaden, die oft ihr Zelt verlegen, binden die Zeltstangen auch einfachheitshalber mit einem Stück Tuch zusammen. Derartige Zelte erschienen spitzgiebliger als Zelte mit Firstholz.

Verzierungen erfolgen generell durch einen hellen, eingewobenen Streifen am Rand, d.h. also am Eingang. Der Giebelpunkt trägt eine weiße "Öse". Sie hat keine erkennbare praktische Funktion. Lediglich beim Zeltaufbau kann man mit Ihr die Plane hochhalten um die Stangen korrekt zu platzieren. Um den Giebelpunkt finden sich bei einzelnen Stammesgruppen abweichende aufgestickte einfache Verzierungen, in der Regel aus weißer Wolle.

Zum Aufbau eines Zeltes benötigt man mehrere Personen. Weder die Zeltstangen noch die Plane steht oder spannt sich allein. Die ausgebreitete Plane wiegt bei einem mittelgroßen Zelt ca. 120 kg, also eine Kamellast. Sie wird mittels der beiden Stangen nach oben gedrückt und die Hauptseile an den Ecken werden an den Zeltpflöcken fixiert. Anschließend wird die Spannung korrigiert und die restlichen Seile fixiert.

3 Zelte in Südmauretanien

Zeltlager in Südmauretanien (Foto: Hans Ritter)

Die Zeltschnüre erfüllen, so unscheinbar sie sind, eine wichtige soziale Funktion. Innerhalb ihres Bereichs ist Zeltfriede: Dieser Raum ist die private Sphäre der Familie. wer als Fremdling in diesem Bereich als Gast akzeptiert wurde, genießt Gastrecht und wird gegebenenfalls gegen Angreifer verteidigt. Dass dies sogar zu Bürgerkriegszeiten in der Westsahara eine gültige Regel blieb, durfte ich am eigenen Leibe erfahren.

Zeltinnenraum

Zeltinneres

Im Zuge der postkolonialen Wirren in der Westsahara gingen viele Zelte verloren. Die Familien flohen unter Zurücklassung ihres Hab und Guts in die westalgerische Wüste, um dort vor militärischer Verfolgung sicher zu sein. Aus den ursprünglichen Flüchtlingscamps wurden in den letzten 24 Jahren Dauereinrichtungen. Als Zeltmaterial wurde alles verwendet, was zur Verfügung stand. Vielfach waren es Militärzelte aus Hilfslieferungen. Material, das im dortigen Klima schnell verschleißt. Trotzdem blieb das grundlegende des westsaharischen Zeltcharakters erhalten, auch wenn sich das schöne, schwarze Zelt unter diesen Bedingungen eher wie ein Flickenteppich repräsentiert.

Hütte - Zelt

Hütte aus Schalbrettern (Chinguetti)

Zeltlager bei Tindouf

Zeltlager bei Tindouf (Foto: K. Wittmer)

Goulimine

Zelte in ummauerten Höfen (Goulimine)

Weißes Zelt

Weißes Baumwollzelt in Südmauretanien (Foto: H. Roth)

Dass die Art des Wohnens im Zelt nichts über den sozialen Standard aussagen muss, zeigen Beduinen, die sich ihr Zelt mit allem Luxus als Feriendomizil halten, wenn sie auch sonst ihrem Beruf in den Metropolen am Golf nachgehen. Aber das ist ein Thema für später.

In seltenen Fällen konnte ein maurisches Zelt in einem Völkerkundemuseum gezeigt werden: So 1979 in Stuttgart zur Ausstellung "Völker der Sahara - Mauren und Twareg", die im Sommer 1980 in Schwäbisch Gmünd wiederholt wurde. 1983 stand ein Zelt für einige Wochen anlässlich einer Sonderausstellung in Offenbach, 1985 eines im Überseemuseum in Bremen.

Seit dem Frühjahr 1999 steht meines Wissens erstmals ein maurisches Schwarzes Zelt in einer Dauerausstellung im Deutschen Ledermuseum in Offenbach. Es ist mit dem gesamten Hausrat einer wohlhabenden maurischen Familie ausgestattet und zeigt Lederarbeiten, die nach meiner Kenntnis einmalig in mitteleuropäischen Museen sind wie beispielsweise der bemalte Lederboden eines Hochzeitszeltes.

Besonders reizvoll ist der Kontrast zur übrigen Dauerausstellung, die Wohnungen anderer Sahara- und Sahelvölker zeigen, wie z.B. ein Twareglederzelt, eine Strohhütte, jeweils mit der gesamten Einrichtung. Kurz gesagt: Offenbach am Main ist eine Reise wert.

 

Literatur: Creyaufmüller, Wolfgang: Nomadenkultur in der Westsahara, Stuttgart 1995, 3. Auflage (1. Auflage von 1983 mit 32 Seiten Ergänzungsheft), 16 + 765 + 32 S. mit 712 + 4 Fotos und Abb.

Hier findet der Interessierte auch die relevante Literatur aufgearbeitet.

Quelle: Mensch und Kleidung, Doppelheft 80/81, Winterbach 1999, S 14-21, ISSN 0176-6856

 

 

Ergänzung zum Zeltaufbau

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Im Frühjahr 1999 wurde im Deutschen Ledermuseum in Offenbach ein Schwarzes Zelt aufgebaut. Als Methode wählte ich die Rgibat-Variante ohne Firstholz, die zu einem spitzen Giebel führt. Der Aufbau gestaltete sich etwas diffizil, weil nur wenige Befestigungspunkte vorhanden waren und zudem die Spannleinen im Museumsraum nicht beliebig lang sein konnten. Die Zeltform ist aber direkt abhängig vom Winkel, in dem die Leinen abgespannt werden können.
'Sieht' man die Kräfteverhältnisse, lassen sich mit bescheidenen Mitteln Abspannmöglichkeiten erzeugen (siehe Bild unten):

Zeltaufbau

Während der Aufbauphase (kniend der Autor)

Eine Zeltplane wiegt ca. 100 bis 120 kg und stellt eine Kameltraglast dar. Zum Aufbau müssen zwei Menschen unter die Plane kriechen und die beiden verbundenen Zeltmasten in die Höhe drücken und in A-Form bringen. Ein Querseil verhindert das Auseinanderrutschen. Vier andere Menschen spannen das Zelt in seine Form und suchen die geeigneten Abspannrichtungen. Dann werden die Fixpunkte gesetzt. Mindeststärke für Ringhaken: 10 mm, besser sind 12 mm. Fingerstarke Hanf- oder Sisalseile dienen als Spannleinen. Man braucht rund 30 m Seil. Ein Aufbau im Innenraum dauert nach meiner Erfahrung 4 bis 8 Stunden, je nach Raumsituation. Im Freien sollte ein Zeltaufbau in einer runden Stunde bewerkstelligt sein. In der südlichen Westsahara war Zeltaufbau Frauenarbeit!!

Ledermuseum

Fertig eingerichtetes Zelt, teilweise mit ledernen Seitenabhängungen

Ledermuseum

Fertig eingerichtetes Zelt, im Vordergrund ein Gebetsplatz

Ledermuseum

Fraktionsmarkierung und Spitzenmarkierung in weißer Wolle, Bettgestell rechts

Die Offenbacher Ausstellung zeichnet sich durch hervorragende Objekte aus. Einmalig ist ein bemalter Lederboden eines Hochzeitszeltes, der an der Rückwand aufgespannt ist. Ein Teil der Seitenbehänge stammt ebenfalls von diesem Hochzeitszelt. Das in obigen Bildern gezeigte Zelt ist nahezu komplett eingerichtet, inklusive eines Bettes, wie es im Süden üblich ist.
Ansonsten ist alles Typische zur traditionellen maurischen materiellen Kultur dargestellt. Dominant sind - dem Sammlungsschwerpunkt gemäß - Lederarbeiten. Hier verfügt das Museum über sehr gute, auch ältere Stücke.
Kleinobjekte sind in Vitrinen ausgestellt.

 

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Letzte Aktualisierung:    2-7-2005

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