Franz TICHY (mit einem Beitrag von Johanna BRODA)

Die geordnete Welt indianischer Völker
Ein Beispiel von Raumordnung im vorkolumbianischen Mexiko

in: Das Mexiko-Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd. 21, Hrsg.: Wilhelm Lauer

42 Fotos, 67 Abb., 22 Tabellen, 5 Faltkarten als Beilage
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1991, 228 S.

In Mesoamerika haben wir ein Gebiet vor uns, in dem es eindeutig Hochkulturen gegeben hat, deren Menschen Städte und steinerne Tempel bauten, diese offensichtlich nach einem übergeordneten Schema orientierten und Mitteilungen in Bilderschrift hinterließen. Die spanische Eroberung im 16. Jahrhundert bildete eine scharfe Zäsur - viele Anlagen wurden zerstört, andere umgewidmet, auf Kultzentren Kirchen oder Klöster gebaut.

Der Geograph weiß, daß Fluranlagen und Flurnamen oft länger überdauern als jede politische Konfiguration. Obwohl sich die alten Spanier intensiv bemühten, die großartigen Hinterlassenschaften Mesoamerikas zu nivellieren, blieb genug übrig, das heute rekonstruiert werden kann. Es wird aus diesen wenigen Bemerkungen vielleicht deutlich, daß bei diesem Thema der vorliegenden Arbeit nur ein interdisziplinärer Ansatz erfolgversprechend sein konnte. Darauf weist Tichy im Vorwort hin, wenn er schildert, wie er ursprünglich von Luftaufnahmen und Karten und deren Interpretation ausging und sich dann in kosmologische Ordnungen, Archäologie, Ethnologie um nur einiges zu nennen, hineinarbeitete. Er war mit diesen Bestrebungen seit den 70er Jahren nicht allein, denn seither entstanden die Forschungsrichtungen, die heute Archäoastronomie und Ethnoastronomie heißen. Tichy wirkte mit seinen Forschungen, Aufsätzen und Vorträgen auf diesem Sektor mit und legt nach fast 30 Jahren Tätigkeit hier eine zusammenfassende Arbeit vor.

In drei einleitenden Kapiteln führt Tichy den Leser von allgemeinen Gedanken ausgehend immer tiefer in das eigentliche Thema hinein. Das astronomische Weltbild im alten Mexiko ist die 4. Stufe. Es macht deutlich, daß sich eine astronomisch orientierte Hochkultur in den Tropen anders entwickeln muss, als eine solche nördlich des Wendekreises, wo die Sonne mittags immer im Süden steht und zirkumpolare Sternbilder ganzjährig den nächtlichen Nordhimmel beherrschen. Beides ist innerhalb der Tropen so nicht gegeben. Tichy führt nun in guter astronomischer Erklärung in die Eigentümlichkeiten eines geozentrischen Weltbildes innerhalb der Tropen ein, beschreibt die möglichen Beobachtungsgeräte, ein Observatorium zur Zenitbeobachtung und Kalenderkorrektur und gibt eine sinnvolle, nach den Solistitialständen orientierte Interpretation des bekannten Azteken-Sonnensteines. Er geht also von den Tatsachen aus, daß Astronomie und exakte Kalender existierten und daß sich eine Ackerbau treibende Landbevölkerung nach sinnvollen Agrarkalen­dern richten konnte.

Das 5. Kapitel widmet sich den deutlich orientierten Siedlungen, Flurgrenzen und Bauwerken. Anfangs konzentrierte sich die Forschung auf zentralmexikanische Beckenräume (Puebla/Tlaxcala, Mexico), von denen nur teilweise Karten vorlagen (sie mussten erstellt werden), dafür aber Luftbilder. Hunderte von Kirchen wurden bezüglich ihrer Hauptachsen kartiert - immer stellten sich Übereinstimmungen mit den Flurrichtungen, den Hauptwegen, den rechteckigen Stadtgrundrissen heraus - und die Solstitien zeigten sich als richtungsweisende Planungsgrundlage. Eine Nebenbemerkung sei erlaubt: die katholischen Kirchen sind also keineswegs geostet, sondern orientieren sich vollständig nach den vorspanisch angelegten Richtungen.

Nachdem die Raumgliederung als astronomisch orientiert erkannt wurde, widmet sich Tichy einigen bedeutenden Bauwerken, z.B. Ballspielplätzen und vor allem Pyramiden und kann die These der Ausrichtung der Gebäudeachsen oder -kanten nach markanten Sonnenstandpunkten im Jahreslauf überzeugend darstellen.

Das 6. Kapitel stellt in Detailuntersuchungen das bisher mehr überblicksmäßig geschilderte vor mit Fotos, Planskizzen und Winkelmessdaten. Dabei wird weiter erhärtet, daß z.B. Klostergründungen im 16. Jh. die vorspanische Pyramidenausrichtung übernahmen. Nur dort, wo die Hänge der ansonsten ja ebenen Becken zu steil werden, richten sich Kirchen und terassierte Fel­der nach den Naturgegebenheiten.

Nachdem genügend Basismaterial gesammelt war, konnte auch eine statistische Auswertung beginnen (753 Kirchenrichtungen in den Becken von Mexico, Puebla-Tlaxcala und Oaxaca). Um es kurz zu machen, es zeigten sich charakteristische Häufungen bei Vielfachen von 4.5°, also einem Zwanzigstel des rechten Winkels. Dies wurde durch ergänzende Messungen aus dem Mayagebiet erhärtet. Von der Hypothese einer mesoamerikanischen Basiseinheit des Winkels (1/80 Vollkreis bzw. 1/20  Rechter Winkel: 4.5°) ausgehend wurde jetzt der Kulturbereich insgesamt auf derartige Spuren durchsucht, Codices genauso wie Pyramidengrundrisse, Kompositionen fi­gürlicher Darstellungen auf Stelen usw. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß Tichy auch die Handspanne mit 18° Winkelöffnung vom Auge aus bei ausgestrecktem Arm heranzieht, um die Zahlenbasis Mittelamerikas (20) mit der von ihm herausgearbeiteten Winkelbasis (1/20 von 90°) in Beziehung zu bringen.

Der Ordnung des Raumes folgt die Ordnung der Zeit - und das heißt in der Regel Kalender. Von vielen Standorten aus (vorzugsweise Pyramiden) werden die astronomischen Hauptrichtungen untersucht und kalendarisch zugeordnet. Immer wieder stößt man auf 260-Tage-Kalender (Agrarkalender), die Tichy und Broda aber sinnvoll mit dem geschalteten (!) 365-Tage-Sonnenjahrkalender in Beziehung setzen können. Es gibt Kalender mit unterschiedlich langen Perioden, aber auch andere mit regelmäßigen 20-Tage-Abschnittten oder 13-Tages-Perioden. Von Johanna Broda stammt in der Fortsetzung der mich überzeugenden Rekonstruktion des „Calendario mexica“ ein Beitrag zu den agrarischen Zyklen und kultischen Festen. Sie dehnte ihre Untersuchungen bis in die Zeit vor der Conquista aus und arbeitete die Rolle des Rituals als Brücke zwischen Astronomie und Naturzyklen, Wirtschaft und Gesellschaft heraus. Die alten Rituale wurden durch christliche Feste (z.B. das des Heiligen Kreuzes: 2./3. Mai; auch Allerheiligen: 1. Nov.) überformt, lassen sich aber bis in die Gegenwart verfolgen, was durch ethnographische Arbeiten gesichert ist.

Auf diesen und anderen, von mir hier nicht geschilderten Angaben basierend, konstruiert Tichy einen hypothetischen Kalender mit 28 Perioden zu 13 Tagen, der mit dem Basiswinkel von 4.5° und der konkreten Azimutabweichung korreliert wurde (das Relief des Horizonts verändert den Winkel des „eigentlichen“ Sonnenauf- bzw. Sonnenuntergangs).

Ein derartiger Kalender erklärt sowohl im Mayagebiet als auch in Zentralmexiko die gemessenen Richtungslinien an Kultbauten und Siedlungsgrundrissen.

Erschwerend zu den bisherigen Darstellungen für unser Verständnis kommen zu den Kulten der Sonne die der Jahreszeiten (Regenzeit und Trockenzeit). Die hohen Berge lassen die Wolken abregnen und gelten seit alters her als Sitz der Regengötter. Das 8. Kapitel widmet sich generell dem System der heiligen Berge. Da diese zwangsläufig ortsfest sind, müssen Bauwerke, die nach radialen Sichtlinien gezielt errichtet wurden, durch Winkelmessung vor Ort (Rückwärtseinschneiden) lokalisiert worden sein. Durch Fotos, Karten und Skizzen wird eindeutig belegt, daß heilige Bauwerke derartige Sichtlinien z.B. in ihren Seitenlinien integrieren. So wurde auch die von der allgemeinen astronomischen Orientierung im Becken von Mexico abweichende Ausrich­tung des Gebietes von Texcoco erklärbar.

Das 9. Kapitel untersucht die Ordnung des Raumes durch Maß und Zahl. Man kennt für das 20er-Zahlsystem Mittelamerikas genügend Belege um seine Existenz als gesichert anzusehen, aber keine Angaben über irgendwie fixierte Längenmaße. Tichy wendet nun viel Mühe auf, um ein solches aufzufinden, kommt aber letztlich doch zu dem Schluss, daß es wohl kein Normmaß gegeben hat (die Fußlängen schwanken von 24 bis 27 cm). In der Landvermessung wurden Messstangen und Messschnüre benutzt, die vom menschlichen Körper abgeleitet wurden, aber auch ohne durchgehaltene Normierung.

Das letzte und 10. Textkapitel ist eine hervorragende Zusammenfassung des ganzen Buches und belegt gerafft nochmals den Tatbestand von der „vollkommen geordneten Welt Mesoamerikas“, die durch die Forschungen und Publikationen Tichys und vieler anderer in den letzten 20 Jahren sichtbar geworden ist.

Abschließend folgen ein übersichtlich geordnetes, sehr ausführliches Literaturverzeichnis, ein Tabellenanhang mit den gesamten Orientierungsdaten der Kirchenachsen (der Ort, Distrikt, die Lage im Kartengitter, der Azimut sind genannt) als Grundlage der beigelegten Faltkarten, Orientierungsdaten archäologisch bedeutender Orte aus der Literatur (Theodolitmessungen) und eigene Kompassmessungen; Sach-, Orts- und Bergregister sind detaillierte Erschließungshilfen, wenn man spezifische Details im Buch suchen will.

Ein Urteil: Ich war als Rezensent froh, nicht nur Ethnologe, sondern auch Geograph und Mathematiker zu sein, der seit vielen Jahren auch Astronomie und mathematische Erdkunde unterrichtet. So bilde ich mir ein, von diesen Blickwinkeln her das Buch als eine hervorragende Studie würdigen zu können. Es ist keine leichte Lektüre, für Nichtmathematiker kommen vielleicht zu viele Zahlenangaben darin vor, aber alles grundlegend wichtige, auch das für Menschen, die in den höheren Mittelbreiten wohnen wie wir hier in Mitteleuropa schwer vorstellbare astronomische Wissen für die Tropen ist didaktisch einfühlsam und mit sehr guten Skizzen aufbereitet. Vom Inhalt her ist das Gesamtwerk überzeugend, Thesen sind sorgfältig belegt und mit Beispielen bereichert.

Man kann davon ausgehen, daß die Welt der Völker Mittelamerikas vor der spanischen Eroberung nach Maß und Zahl in Raum und Zeit präzise geordnet war.

(Wolfgang Creyaufmüller)