Bernhard Streck

Die Halab - Zigeuner am Nil

in: Sudanesische Marginalien, Bd. 4 - Hrsg.: Fritz W. Kramer/Bernhard Streck

Edition Trickster im Peter Hammer Verlag

Wuppertal 1996, 411 S.

 

Ein Zeltplatz auf Korsika. Wir kamen an, packten aus, bauten Zelte auf. Unsere Platznachbarn waren etwas abgeschlossen: räumlich, optisch, akustisch. Erste zarte Kontakte ... welche Sprache? Wiederholte Sichtkontakte: Die Haare, Ohrringe, Schmuck, Kleider - ein Begriff fiel: Zigeuner. Jetzt war Erklärungsbedarf für heranwachsende, kritische Töchter: Ethnische Minderheit, Sprache (eigenständig und die des Gastlandes), jährliche Treffen in der Camargue, Wohnwagen, Teppichhändler, Vorurteile, ... , Verfolgung, Pogrome, KZ, Herkunft aus Indien, Roma und Sinti, Sprachwurzeln, eigene Kultur, endogam, Jahrmarkt, Tarot, Vorurteile, Vorurteile ... ein komplexes Phänomen ohne scharfe Grenzen - schwer zu fassen für Jugendliche. Jeder Einzelunterschied wird analysiert und mit messerscharfer Logik nivelliert, wo es geht. Wie ist die Abgrenzung? Ein Begriff entsteht fuzzy, nicht scharf umgrenzt, durch viele winzige Einzelfacetten und dann Clusterbildung. Heranwachsende lieben klare Begriffe, eindeutige Grenzen.

Dies übertragen wir nach Nordafrika, in den Sudan. "Zigeuner am Nil" ist der Untertitel von Bernhard Strecks Buch "Die Halab". Schon in der Anmerkung 1 zur Einleitung liefert er das Material zum ersten Satz: "Eine historische Annäherung an das Thema Zigeuner im Sudan ist mühsame Fragmentensuche; ...". Die Forschung über orientalische Zigeuner ist kaum über den Stand Sinclair’s von 1907 hinausgekommen (S. 13). Auf die Stadt Aleppo (Halab), Synonym für hochstehendes Handwerk, beziehen sich die meisten Zigeunerhandwerker im Sudan (S. 318). Mit über 30 Literaturverweisen in einer einzigen, ersten Endnote fühlt sich der Leser fürs Thema gerüstet (Hätten das die Töchter in Korsika ausgehalten?) Vielleicht wird er ja auch erschlagen von dieser Fülle, die sicher irgendwo nötig ist angesichts der sozialen Brisanz des Themas (z.B. Sommer 1999: Kaum schweigen im Kosovo die Waffen, werden Zigeuner als nächste zu verfolgende/zu vertreibende (?) Gruppe angeprangert). Nur: Streck führt den Leser nicht behutsam ans Thema heran, kein anfängliches globales Bild, einkreisen, mehr Facetten, dann die Details - nein: Kopfsprung ins Bad der Fachliteratur, untertauchen, untenbleiben. Wer das übersteht, mag getrost weiterlesen.

Der koloniale Aufbau und die Stadt selbst als Werkstatt (Metalle, Abfallverwertung, Ausbildungswerkstätten, Blechverarbeitung) boten den Traditionsberufen der Zigeuner vielerlei Chancen (S. 24) und zogen wahrscheinlich viele Halab-Familien aus Ägypten an.

In den weiteren Teilen des 1. Kapitels verfolgt der Leser Spuren der Halab in Geschichtsdokumenten und schließlich in der ethnographischen Literatur. Viele Facetten berichten von den Halab in metallverarbeitenden Berufen wechselnder Zielrichtung (Gewehrläufe, Ketten und Halseisen, Waffen, Pferdetrensen, Ackergeräte).

In seinem Rekonstruktionsversuch kommt Streck auf das Bild, daß die Zigeuner aus Ägypten, teils sogar aus dem Maghreb, und aus Südarabien eingewandert sind. Sie kamen nie als Stämme, sondern in Familienstärke. Sie waren als Handwerker Beduinenstämmen angegliedert, sie folgten den osmanischen Heeren, sie kamen als Arbeitsimmigranten (S. 42). Sie wanderten seit ca. 1820 kontinuierlich, im 20. Jh. verstärkt ins Land. Heute leben vermutlich 20000 bis 50000 Halab im Sudan und sie haben ihre eigene Sprache. Dies wird im Exkurs 2 (S. 290-303) ausführlich behandelt.

Das 2. Kapitel widmet sich den Ressourcen der sozialen Umwelt. Streck macht hier 3 Schichten ausfindig:

1) offene Stellen, deren Besetzung sich zur "wirtschaftlichen Symbiose" entwickeln kann (S. 56ff.)

2) Müll: "Zigeuner tun nicht nur, was die Wohlanständigen nicht tun wollen, sie leben auch von dem, was diese wegwerfen" (S. 58f.). Hierzu gehört im Sudan gegenwärtig alles, was von Autos übrigbleibt.

3) Bewässerungspumpen: Dampfpumpen, Dieselpumpen, elektrische Pumpen (S. 60).

Es gibt einen volkswirtschaftlich bedeutsamen Markt der technischen Improvisation, auf dem die Halab überproportional vertreten sind (S. 61).

Bei allen Schilderungen zieht Streck, häufig nur in Nebensatzlänge, Beispiele aus weit entfernten geographischen Regionen heran. Das bereichert einerseits das Gesamtbild, erschwert aber die Konzentration auf das Thema des Buches: die Halab im Sudan. Dieses Springen von Ort zu Ort behindert die Lesearbeit doch ziemlich stark.

Nach einer allgemeinen Einführung wendet sich Streck nun den einzelnen, typischen Zigeunerberufen zu und beschreibt diese detailliert - wieder, wie oben schon angemerkt, mit Abschweifungen in die Geschichte bis zum Mittelalter, in die Regionen Europa, Orient, Arabien, Ostafrika. Er gliedert wie folgt:

a) Blech- oder Kaltschmied, Kesselflicker (S. 67-100): Es wird die Metallbeschaffung, die Arbeitstechnik und die Werkstattausrüstung genau beschrieben. Hier wird Strecks Arbeit wirklich zu einer Regionalstudie. Einige Gegenstände werden in allen Herstellungsabläufen beschrieben, angefangen vom Schnittmuster für die Blechtonnen oder -kanister (z.B. für eine Schüssel oder Pfanne, eine Wasserkanne, einen Lüftungsrohraufsatz etc.). Einzelne Arbeitsprozesse sind gleichsam als Fallbeschreibung ausgeführt wie als Beilage für einen ethnographischen Film (auf derartige Filme weist Streck im Text hin, z.B. S. 75). Das Unterkapitel leitet über in eine Werkstattbeschreibung, dann in eine Marktanalyse und Beschreibung der Plätze der Kaltschmiede in Omdurman Ende des 19. Jhs. und in den 60er Jahren und wird abgeschlossen durch 12 Fotoseiten, die vieles abbilden, was zuvor durch Worte vermittelt wurde.

b) Grobschmiede (S. 101-124): Hier fängt die Beschreibung im 13. Jh. in Griechenland an und mündet in eine allgemeine Betrachtung der Schmiede in Afrika. Hieran schließt sich eine Mischung von Marktanalyse und Schilderung der Rohstoffgewinnung (überwiegend aus Autoteilen) und letztlich eine Schilderung der einzelnen Werkzeuge (Schieber, Hämmer, Gebläse usw.). Streck widmet sich dann einer Halab-Schmiede in Singa genauer (wo liegt denn Singa? Kein Problem, denn der Leser hat ja sicher die berühmte Michelin-Karte 154 zur Hand und findet den Ort, von Khartoum aus 360 km den Blauen Nil flußaufwärts ... ). Auch diesem Unterkapitel folgt ein Bildteil.

c) Das folgende Unterkapitel beschäftigt sich mit Spezialisierungen im Metallgewerbe. Hier sind die allgemeinen Rahmenbedingungen mit der Elektrifizierung der Werkstatt verknüpft. Das Kapitel ist hochinteressant, betrifft die Halab aber nur eingeschränkt.

d) Unter den sonstigen Gewerben finden wir die Eselzucht bzw. den Handel mit den Tieren, was die davon betroffenen Halab zum Nomadisieren zwingt. Dann folgen wieder Handwerksberufe wie Radiotechniker, Reperateure für Gasdrucklampen und für Bettroste. Am Schluß steht das Hausieren, d.h. hier der wandernde Kleinhandel vor allem mit Haushaltswaren, gefolgt von Tätigkeiten unterschiedlicher Akzeptanz wie das Tatauieren, der Rauschmittelhandel, die Prostitution, das Glücksspiel, der Bettel, die Musik.

e) Unter den Bedingungen für Nomadismus wirft Streck ein Licht auf die Gründe von Wanderungen - dies kann aber nicht überzeugen als Bild, die Halab von anderen abzugrenzen.

f) Einige Beispiele schildern Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs oder der Eingliederung in die übrige Gesellschaft.

Im 3. Kapitel "Bindungen und Abgrenzungen" kommt der Autor verstärkt auf die sozialen Beziehungen zu sprechen: "Wo sich die Niltalzigeuner dagegen deutlich und möglicherweise gerne unterscheiden, ist die profane Kultur, der Diskurs des Alltags. Hier findet die kulturelle Auseinandersetzung statt." (S. 187). Dies wird nun belegt durch Beispiele von Streitgesprächen und Schimpfworten, dann, umgekehrt, wie der Begriff "Halab" selbst zum Schimpfwort werden konnte. Daraus wiederum resultieren verschiedenen Weisen der Mimikry (dynastische, urbane, ethische).

In guter, zusammenfassender Beschreibung versucht Streck ein Kulturprofil zu zeichnen und führt Elemente an, die Nitalzigeuner charakterisieren wie z.B. traditioneller Kinderreichtum, Genuß von Schnaps oder Rauschkraut, Haut-, Haar und Augenfarbe, bunte Kleidung, Goldschmuck, Farbtatauierungen, Tierliebe, Streitkultur Schmähduelle, Gefühlüberschwang in Freud und Leid, wenig Trennung zwischen den Geschlechtern häufig verbunden mit starker sozialer Stellung der Frau (S. 196-212).

Der nächste Abschnitt geht nun unter der Überschrift ‘Nachbarschaften’ auf die sozialen Kontakte zur Umgebung ein, auf die Arten des Zusammenwohnens vieler Familien im Verwandtschaftsgehöft. Den Heiratsallianzen widmet sich der darauf folgende Teil. An konkreten Beispielen werden endogame und exogame Verbindungen studiert, darunter auch Mehrfachbindungen und Verwandtenheiraten. Die Patronagen (Nachbarschaft, Weggenossenschaft, Verschuldung, Lohnabhängigkeit) hingegen sind überwiegend Verbindungen heterogener Bevölkerungsteile. Nur im letzten Typ finden sich Halab als Seniorpartner. Auf diese vertikalen Beziehungen, die Streck durch viele konkrete Beispiele lebendig schildert, folgen die horizontalen Beziehungen der Zigeuner untereinander unter dem Stichwort ‘Solidaritäten’ - Verwandtschaften, Berufsgenossenschaften, Religion. Letztere wird durch die Schilderung einer Beschneidungsfeier konkretisiert.

In den letzten Abschnitten (Stufen der Verachtung, einigende Symbole und mythische Verpflichtungen) greift Streck vieles wieder auf, was er zuvor erwähnte, versucht es aber zu verdichten und zu verallgemeinern.

Drei Exkurse (1. Orientzigeuner, 2. Geheimsprachen, 3. Stadtentwicklung) schließen den Textteil ab.

Die Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln folgen gesammelt als Endnoten (S. 317-350).

Das Literaturverzeichnis (S. 351-386) ist sehr ausführlich; danach folgen 4 Anhänge: das technische Vokabular der Zigeunerschmiede (leider nur nach deutschen Stichworten geordnet; S. 387-400), eine Preisliste der Blechwaren, diverse demographische Angaben (hier ist die Numerierung etwas unklar). Abbildungsverzeichnis, Inhalt und Index schließen das Werk ab.

Den Zusammenhang mit dem Projekt Tsiganologie (S. 7) kann das Werk nicht leugnen - es hat sich aber auch nicht richtig davon abgenabelt, um als Monographie dazustehen. Ich vermisse die Ordnung und die Beschränkung. In zu vielen Kapiteln werden erst alle möglichen Zigeunerbelege angeführt und dann erst das eigentliche Thema. Gravierend ist das Fehlen einer brauchbaren geographischen Karte sowie eines Glossars arabisch-deutsch.

Der Exkurs 1 stellt eine sehr gute, übergeordnete Darstellung in die Zigeunerproblematik dar. Mit ihm sollte man das Buch beginnen. Dann hätten die vielen Texthinweise auf die Zigeuner in aller Welt in fast jedem Kapitel entfallen oder in die Anmerkungen ausgegliedert werden können. Übrig bliebe eine hervorragende Monographie. Eigentlich ist es ja ein gutes Buch, sehr kenntnisreich, detailliert und überschauend. Eine Umordnung und teilweise Raffung hätte aus einem etwas trüben Stein einen Brilliant gemacht.

(Wolfgang Creyaufmüller)

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