Johannes Kiersch (Hrsg.)

Texte zur Pädagogik aus dem Werk von Rudolf Steiner. Anthroposophie und Erziehungswissenschaft

757 S., geb. € 58,–. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2004

Das Buch ist keine unnötige Ansammlung von Steiner-Texten, die dem Waldorfpädagogen ohnehin schon bekannt sind. In ihm ist auch, obwohl im Untertitel Erziehungswissenschaft steht, keine spröde Abhandlung zur Theorie der Pädagogik zu finden. Nein, es ist ein Arbeitsbuch für all jene, die sich mit dieser besonderen Pädagogik eingehender auseinander setzen wollen. Ihnen wird eine übersichtliche, fein strukturierte Orientierung über das pädagogische Werk Rudolf Steiners zur Verfügung gestellt. Dafür hat Johannes Kiersch die Dornacher Gesamtausgabe im Hinblick auf pädagogisch relevante Äußerungen Steiners durchgesehen; er legt hier ein erstes Gesamtverzeichnis der Texte Steiners zur Pädagogik vor, dessen Fülle – es sind gut 180 Einträge – er für eine erste Übersicht in Rubriken aufteilt: 1. Aufsätze, Berichte, Notizen, 2. Lehrerkurse und Konferenzbesprechungen und 3. Vortragsreihen, Einzelvorträge und Ansprachen. Er fügt dabei denjenigen Texten, die nicht in den speziell der Pädagogik gewidmeten Bänden der Gesamtausgabe (GA 293–311) enthalten sind, hilfreiche, den Inhalt betreffende Erläuterungen hinzu. In dieser Liste können besonders die Einzelvorträge auffallen, die thematisch über einen unmittelbaren pädagogischen Inhalt hinauszuweisen scheinen und nun durch die Hinweise als pädagogisches Material erkennbar werden. Man findet Vorträge wie Der menschliche Charakter, Die Versöhnung der Künste (Titel von Kiersch ergänzt) oder einen mit dem Titel Mann, Weib und Kind im Lichte der Geisteswissenschaft (letzterer fällt auch dadurch auf, dass Steiner ihn innerhalb des Jahres 1908 fünf Mal an verschiedenen Orten hielt, zuletzt in Prag, wo er schließlich in tschechischer Sprache in der Teosofická Revue erschien.)

Den Hauptteil des Buches bildet eine repräsentative Auswahl von etwa 70 Texten Steiners zur Pädagogik, die Kiersch chronologisch in Entstehungsphasen anordnet: 1. Philosophische Grundlegung. Aphoristisches zur allgemeinen Bildungstheorie und zur zeitgenössischen Bildungspolitik (1883-1902), 2. Anthropologische und wissenschaftstheoretische Grundlegung. Erste Vorschläge für die Erziehungs- und Unterrichtspraxis (1904-1918) und 3. Schulgründung und weiterer Ausbau des didaktischen Konzepts. Vertretung nach außen (1919-1924). Die Sammlung reicht somit von Steiners frühen, an Goethe anknüpfenden erkenntnistheoretischen Arbeiten, über die grundlegenden menschenkundlichen Ausführungen bis zu den die konkrete Praxis der Schule betreffenden Angaben. Darüber hinaus enthält sie Meditationsmotive, Sprüche und exemplarische Hinweise zur Selbsterziehung des Lehrers. Es ist eine bemerkenswerte Auswahl, die den pädagogischen Formenkreis aus dem Steiner-Werk als Ganzen vorzüglich umschreibt und eine faszinierende Themenvielfalt entstehen lässt. Sie liefert außerdem Titelüberschriften für alle Texte und untergliedert diese als praktische Lesehilfe mit  fortlaufenden Ziffern, die vor dem jeweils neuen Gedanken stehen.  

Den Texten geht eine Einführung voran, die helfen will, diese komplexe Pädagogik zu begreifen. Kiersch formuliert sie aus einer umfassenden und differenzierten Kenntnis des (waldorf-)pädagogischen Gesamtzusammenhangs. Er setzt dort an, wo das Schul- und Bildungswesen sich heute befindet, indem er das Dilemma aufzeigt, wie es den vom Staat verwalteten Institutionen nicht mehr gelingt, mit ihren Mitteln, die nur noch auf Zweck und Nützlichkeit eines Lerninhaltes ausgerichtet sind, der Jugend eine sinnstiftende Lebensgrundlage zu vermitteln. Hier kann die Waldorfpädagogik echte Lösungsvorschläge anbieten, denn die »Eigenart und Stärke der Pädagogik Rudolf Steiners ist es demgegenüber, dass sie mit den großen alten Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit der Welt beginnt.« Insofern ist leicht nachvollziehbar, dass es heute weltweit etwa 900 Waldorfschulen gibt – ihre Entstehung folgt einem urmenschlichen geistigen Bedürfnis. Wer diese Pädagogik sich allerdings wirklich zu eigen machen will, stößt immer wieder auf Verständnisschwierigkeiten, die nur mit einiger Anstrengung zu überwinden sind, denn »ihr Anspruch auf Wirklichkeitsgemäßheit, oder etwas enger gefasst: auf Wissenschaftlichkeit ist für sie konstitutiv und unverzichtbar. Wer verstehen will, was Steiner pädagogisch meint, wird sich deshalb zunächst mit dem Problem seines Anspruchs auf ›Wissenschaftlichkeit‹ zu beschäftigen haben.« Diese Arbeit, eine (notwendige) Auseinandersetzung mit der Steinerschen Pädagogik, will das Buch unterstützen und anregen. Kiersch beschreibt dafür grundlegende Teilgebiete einer anthroposophischen Pädagogik, die einen weit gefassten Kontext ergeben: Wissenschaftslehre und Dreigliederungslehre gehören beispielsweise ebenso dazu wie die »Kunst« des Erziehens und eine pädagogische Berufs-Esoterik.

Die dicht verfasste Einführung gibt auch einen Überblick über die inzwischen recht umfangreiche Sekundärliteratur zu Forschungen aus dem Werk Steiners, insofern sie für die Pädagogik Bedeutung haben (z.B. zur Sinneslehre, zum Goetheanismus, zur Dreigliederung). Kiersch geht es – die jeweiligen Arbeiten vorsichtig bewertend – vor allem darum, neue Forschungen anzuregen, die auf den Nerv dieser eigentümlichen Pädagogik zielen, d.h. ihre anthroposophisch-geisteswissenschaftliche Grundlage: Wie könnte sich etwa Steiners vielschichtiger Intuitionsbegriff in der waldorfpädagogischen Didaktik manifestieren? Wer arbeitet auf Grund der humanphysiologischen Entdeckungen Steiners gleichsam eine »Physiologie der Freiheit« aus? Wie kann Steiners Erziehungsbegriff grundlegend formuliert werden? – Das Buch wendet sich an eine Leserschaft, die diese Pädagogik erkenntnismäßig zu durchdringen sucht. Aber damit ist im Prinzip auch jede Lehrerin, jeder Lehrer angesprochen, denn was geschieht in einer pädagogischen Konferenz, in einer menschenkundlich fundierten, didaktischen Unterrichtsvorbereitung anderes als eine gedankliche, eine erkenntnismäßige, also eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Erziehung? Sie erst bildet die notwendige Grundlage einer Erziehungskunst. In diesem Sinne wendet sich dieser hilfreiche Band, der das pädagogische Ethos im Leser aufruft, an ein breites Lesepublikum: an interessierte Laien, an kritische Fachleute und nicht zuletzt an den praktizierenden Waldorfpädagogen.

Daniel Hartmann

 

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