Maria Latella

Tendenza Veronica

318 S., geb. € 14,–. Rizzoli, Mailand 2004

 

Miriam Raffaella Bartolini privat. Auf der Bühne als Veronica Lario eine gefeierte Schauspielerin, als Frau Berlusconi eine auffällig-unauffällige Persönlichkeit der Zeitgeschichte. Drei Naturen, vereint in der Fähigkeit, sich in andere Menschen einzuleben –liebevoll mitfühlend die erste, darstellend im Rampenlicht die zweite, aus privilegiertem Ausguck scharfsichtig beobachtend die dritte.

Der Gegenpol: Silvio Berlusconi, erfolgreicher Selfmademan, für den jede Grenze eine Herausforderung darstellt. Auch er besitzt die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzudenken. Er nutzt sie effektiv zum eigenen Vorteil.

Die Wege der beiden berühren sich mehrfach, ähnlich wie bei dem übers Wasser hüpfenden Kiesel, bis schließlich die endgültige Verbindung zu Stande kommt. Eine Ehe zweier unabhängiger Persönlichkeiten. Sie umfasst in erstaunlicher Weise alle Seiten des Menschen: »Er ist mein Gegenstück, und in manchem bis heute ein Mysterium«, sagt seine Frau von ihm.

Eine weitere Person kommt hinzu: Maria Latella, viel gelesene Reporterin des Corriere della Sera: Ihr gelingt es nicht nur, das erste Interview der zurückhaltenden Prominentengattin zu erreichen, sondern es entsteht eine Freundschaft zum Menschen Miriam Bartolini. So wird das vorliegende Buch möglich.

Das Buch ist ein Glücksfall: Die unbestechliche Journalistin tut sich mit der Freundin zusammen, lässt sie ausführlich selbst zu Wort kommen, ergänzt das Notwendige und stellt die wichtigen Fragen.

Das Buch ist ein Zeitzeugnis: Aus dem Miterleben der italienischen Gegenwart durch eine wache Beobachterin werden die zentralen Probleme und Aufgaben Europas sichtbar. Obwohl die Dinge beim Namen genannt werden, gibt es keine Schuldzuweisungen oder Verurteilungen. Der Leser muss selbst sein Urteil bilden. Es sind knappe, einprägsame Miniaturen, die ihn durch politisches Dickicht führen, ihn Wladimir Putin oder Hillary Clinton begegnen  lassen, die über politische und wirtschaftliche Männerfreundschaften, über die aktuelle oder auch die wünschenswerte Rolle der Frauen oder über die Sackgassen der Weltwirtschaft sinnieren.

Das Buch ist nicht zuletzt auch ein menschliches Dokument, in dem wir uns wiederfinden können. Kaum eine Lebensfrage, die nicht anklänge – aus der individuellen Sicht der Protagonisten, aber immer mit einer größeren Perspektive.

In Italien hat die Veröffentlichung in allen Lagern Furore gemacht. Ein rasches Urteil mag auch hier zu Lande schnell fallen: »Wie kann eine so kluge Frau – die sich an Goethe, an spirituellen Werten orientiert, die einen klaren Blick für alle Irrwege und Gefahren unserer Zeit hat – wie kann sich so jemand mit einem egozentrischen Machtmenschen verbinden?«

Nimmt man jedoch Veronicas Standpunkt ein, so zeigt sich der andere Befund: Gerade weil sie nie in Klischees denkt, weil sie nicht verurteilt, sondern zu verstehen sucht, wird Silvio Berlusconi für sie zur Verkörperung eines prometheischen Odysseus. Sie kann sich bewusst und bedingungslos zu ihm stellen, als sein alter ego; nicht obwohl sie die Realität sieht, sondern weil sie sie bejaht, selbst wo sie sie nicht billigt. Eine ihrer Stärken ist das Zuhören, das »aktive Schweigen«, wie es einmal heißt – ein Zuhören, in dem stets die ganze Person anwesend ist, die sich dann im gegebenen Augenblick äußert. Während er von einem Ziel zum nächsten strebt, sich dabei aber nicht verändert, sieht sie ihre Aufgabe in der Selbsterziehung, in der eigenen Entwicklung und der ihrer drei Kinder. Dass die nicht fernsehen dürfen, hat denselben eben genannten Grund: Sie kennt das virtuelle Medium zu genau und setzt daher in der Erziehung auf direkte Erfahrung, auf Naturerleben, den Umgang mit Tieren und Pflanzen, auf künstlerische Betätigung, auf das Gespräch und das Lesen – und natürlich auf das Theater. Von da aus ist der Besuch der Waldorfschule fast eine Selbstverständlichkeit (für die italienischen Steiner-Schulen nicht ganz ungefährlich, weil tendenza Veronica und tendenza Silvio nicht immer auseinander gehalten werden).

»Tendenza Veronica« – das ist eine aus tiefer Quelle gestärkte Lebensauffassung, kraftvoll und doch leise, im Vertrauen auf geistige Kräfte. »Ich lebe in dem Gedanken«, sagt Veronica, »dass es für die Welt und den Menschen einen Plan gibt« und: »Der physische Tod vernichtet den Körper, aber nicht die vollbrachten Taten«.

Eine deutsche Ausgabe ist zu wünschen, und wird wohl nicht lange auf sich warten lassen.

Bruno Sandkühler

 

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