Ernest Goldberger

Die Seele Israels. Ein Volk zwischen Traum, Wirklichkeit und Hoffnung

489 S., geb. € 38,–. Wilhelm Fink Verlag, München 2004

 

Man hat sich immer schon gefragt: Wie wirkt sich die heutige israelische Politik auf die Mentalität und Lebenseinstellung der eigenen Bevölkerung aus? Konnte in dem halben Jahrhundert seit der Existenz des Staates aus den bunt zusammengewürfelten Einwanderern ein Volkscharakter entstehen? Haben sich bestimmte Verhaltensmuster im täglichen Leben gebildet? Diesen Fragen geht der jüdisch-schweizerische Soziologe Ernest Goldberger
(* 1931) in seinem neuen Buch über »Die Seele Israels« nach. Er bringt dafür durch Familienschicksal und Studium die besten Voraussetzungen mit. Seit 1991 lebt er im Ballungsraum Tel Aviv und damit hautnah innerhalb der politischen Ereignisse. Die drei Teile des Buches sind in bezeichnender Weise ungleich lang: Dem Traum Theodor Herzls vom Zionismus und dem Abschnitt »Hoffnung« sind nur jeweils 40 Seiten zugewiesen.

Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich sehr detailliert mit den erschreckenden Zuständen in der Politik (davon hören wir täglich), aber auch im Alltag der zivilen Bevölkerung. Das sind kaum bekannte Tatsachen, die das Buch wichtig machen.

Am Anfang der heutigen Situation stehen zwei Irrtümer bzw. Illusionen: Herzls Vision, die alteingesessenen Palästinenser würden die jüdischen Neueinwanderer mit offenen Armen begrüßen, hat sich nicht erfüllt, und einen über Jahrhunderte existierenden jüdischen Staat hat es nie gegeben. Die israelische Politik beruft sich aber auf solche Verdrehungen und hämmert sie dem Volk durch Erziehung und Propaganda ein. Dadurch erzeugt sie einen sozialen Anpassungsdruck und möchte ein konformes Verhalten erzwingen. – Hier können nur einige Aspekte aus der Fülle des vom Autor zusammengetragenen Materials gegeben werden.

Im politischen Leben herrscht die Gepflogenheit, bei Konflikten Schuldzuweisungen an andere vorzubringen, wo man selbst die Verantwortung übernehmen müsste. Überhaupt fehlt weithin die gedankliche Verarbeitung eines Problems unter abendländischen Wertvorstellungen. Kritik an der israelischen Politik aus den eigenen Reihen gilt als antinational. Das äußert sich bisweilen bis hin zu Pöbeleien im Parlament. Nämlich: Wer die Macht hat, hat Recht und weiß alles besser! Besonders die Likud-Partei setzt auf das Militär. Dabei holt sie sich die ideelle Begründung für ihre Übergriffe oft bei den Ultra-Religiösen, ohne selbst ein religiöses Leben zu führen. Dadurch ist der politische Einfluss der Orthodoxen erheblich, weil die großen Parteien ihre Stimmen brauchen und dafür auch bezahlen. Über ihre gut ausgestatteten Schulen versuchen die Orthodoxen dann, ihre rückwärts gewandten Vorstellungen in der Bevölkerung zu verbreiten.

Überrascht liest man, dass die Gewaltbereitschaft bis ins Alltagsleben hinunterreicht und hier Formen annimmt, die westlichen Vorstellungen widersprechen. Prügeleien um einen Parkplatz, Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr (es gibt im Hebräischen kein Wort für »Rücksicht«!), Gewalt auch in der Familie. Manchmal wird Gewalt auch religiös begründet. Banden mit Schutzgeld-Praktiken und Selbstjustiz sind allgemein verbreitet. Korruption herrscht bis in höchste Stellen: Universitäts-Diplome kann man kaufen. Die Religion ist auch in orthodoxen Kreisen weitgehend zur sinn­entleerten Tradition geworden; andererseits behindern religiöse Arbeitsvorschriften das Wirtschaftsleben (Arbeitsverbot an religiösen Feiertagen). Das hat zu einer unnötigen Verarmung bestimmter Kreise geführt. Den Arbeitgebern ist Willkür erlaubt; Gastarbeiter werden menschenunwürdig behandelt usw. Das alles wird vom Autor an zahllosen (vielleicht zu vielen?) konkreten Beispielen belegt.

Besonders instruktiv sind die Schilderungen eines gewöhnlichen Tageslaufs mit typischen Verhaltensweisen oder der Situation in der von Palästinensern bewohnten Großstadt Hebron, wo die wenigen jüdischen Siedler von einem starken Militäraufgebot geschützt werden müssen.

Auch der Blick auf die Geschichte Israels bringt Neues: So die versäumte Integration der aus ganz verschiedenen Kulturkreisen gekommenen jüdischen Einwanderer (ost- und westeuropäische Juden), die Verdrängung der Araberfrage, die Hintergründe des Mordes an Ministerpräsident Rabin 1995 sowie die verschiedenen Kriege Israels und deren seelische Nachwirkungen. Obgleich es bedeutende israelische Wissenschaftler mit Weitblick gibt und gegeben hat, ist man erstaunt, wie wenig sich ihre Gedanken durchsetzen, dass z.B. mit Umwelt und Wasser-Ressourcen derart zerstörerisch umgegangen wird.

Als besonders tragisch schildert der Autor das Wirken des Rabbi Ovadia Josef, des geistig-religiösen Führers der Shas-Partei. Er kann über seine Abgeordneten die Politik mit seinen extremen Vorstellungen erheblich beeinflussen und ist dadurch einer der mächtigsten Männer Israels, vom dem wir in Europa kaum je etwas hören.

Zum Schluss macht Goldberger am Beispiel Jerusalems noch einmal die Komplexität des israelischen Schicksals deutlich. Seine Zukunftshoffnungen, die er im kurzen Schlusskapitel eher utopisch ausspricht, sind gering. Das erschreckt. Freilich: Man wird durch die Fülle der negativen Tatsachen erschlagen, obgleich es natürlich wichtig ist, von ihnen zu erfahren. Es bleibt allerdings die Frage, ob es denn gar keine, wenn auch bescheidene Keime von positiven geistigen oder sozialen Entwicklungen in Israel gibt! 

Christoph Göpfert

 

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