Peter-Michael Riehm

Hör ich von fern Musik. Liederbuch für die Waldorfschule

344 S., geb. € 24,–. Neuausgabe, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004

 

Was lange währt, wird endlich gut: Der im Jahre 1990 erschienene Band »Hör ich von fern Musik – Volkslieder für unsere Zeit«, so der Untertitel, fand über die Jahre großen Zuspruch und wurde zu einer unentbehrlichen Sammlung nicht zuletzt für den Musikunterricht an Waldorfschulen. Da sich eine Neuauflage lange hinauszögerte, wurde das Buch in den letzten Jahren schmerzlich vermisst. Nun ist es in neuer Form, diesmal als »Liederbuch für die Waldorfschule«, herausgekommen. Etwas abgespeckt, statt 439 noch 344 Seiten, präsentiert sich diese Sammlung in handlicher Form. Von den ursprünglich 326 Liedern schieden 29 aus, drei neue kamen dazu. Die Grundsubstanz konnte bewahrt bleiben, mit den nun 300 Liedern lässt sich gut über viele Jahre hin arbeiten.

Doch war das nötig? Es gibt doch weiß Gott genügend Liederbücher auf dem Markt, es erscheinen jedes Jahr neue dazu, da ist doch einiges in Bewegung! – Nun ja, an Liederbüchern herrscht kein Mangel. Schaut man allerdings etwas genauer hin, so kann auffallen, dass die Sammlungen in der Regel einstimmig gehalten sind, gelegentlich mit Akkordsymbolen zur Unterstützung mit Gitarre oder Klavier. Wenn es zur Mehrstimmigkeit kommt, dann oft nur durch simple »Austerzung« der Melodie, durch mehrheitlich schwerblütige gleichlaufende Sätze. Unattraktive Nebenstimmen werden gehandelt wie sauer Bier: Muss ich diese Stimme singen, ohne jedes Eigenprofil, ohne eigenes Gesicht, nur als untergeordnete Füllstimme? – Außerdem liegt alles so tief, als würden wir nur noch in Sprechlage singen. Insbesondere im Hinblick auf die Arbeit mit Kindern scheint ein Gefühl für den natürlichen Sitz von Kindersingstimmen empfindlich im Schwinden begriffen zu sein.

Ein einzigartiger Vorzug von »Hör ich von fern Musik« liegt in seinen im besten Sinne pädagogisch wertvollen Sätzen, das heißt in seiner Art, echte Mehrstimmigkeit im Zusammenhang mit »Volksliedern« zu pflegen. Unter seinen mehrstimmigen Liedern finden sich 175 Sätze des Herausgebers Peter-Michael Riehm. Jede dieser neu dazustoßenden Stimmen besitzt Eigenprofil, enthält eine melodisch vorandrängende Kraft, korrespondiert oft mit der »Hauptstimme« in freier Imitation und behält dennoch klare Autonomie. Was ist denn echte Mehrstimmigkeit? Ein Miteinander unterschiedlicher Stimmen, die jede für sich ein klares Profil im horizontalen Verlauf behauptet und gleichzeitig, wie nebenbei, ein Zusammenspiel mit aufflackernder Farbigkeit, Spannung und Auflösung, herben und milden Zusammenklängen ergibt. Entscheidend ist noch nicht die Aufgliederung in vertikale Funktionen wie Bass als Träger der harmonischen Fortschreitung, Sopran als Träger der melodischen Substanz sowie der Mittelstimmen als weitgehend durch die bereits genannten Stimmen definierte Füllstimmen. Dieser harmonisch-funktionale Typus wird erst so richtig interessant, wenn sich die Singstimmen durch den Stimmbruch nach Geschlechtern differenzieren und ein harmonisches Spannungsgefälle, wie es der vierstimmig gemischte Satz ermöglicht, auf entsprechende seelische Erlebnisfähigkeiten trifft. – In den hier vorliegenden Liedern und Sätzen haben wir es mit der verschwenderischen Natur an mehrstimmigen Gewächsen zu tun, die uns überhaupt das Musizieren im komplexeren Miteinander zuerst aufschließen und uns richtig darin austoben lassen. Vor allem die Jahre vor dem Stimmbruch erlauben von den Fähigkeiten der Kinder her eine später nie wieder in gleicher Weise vorhandene Leichtigkeit des Auffassens und freudigen Musizierens in diesem Bereich, vorausgesetzt sie werden entsprechend enthusiastisch dazu angeleitet. Virtuose Mehrstimmigkeit in den Mittelstufenjahren gehört zu einer musikalisch einzigartigen Situation. Dort bricht von Jahrgang zu Jahrgang eine geradezu an Renaissance gemahnende Freude am mehrstimmigen Entdecken, Probieren und Genießen aus. Die Sätze aus »Hör ich von fern Musik« gehören da mit zu den Lieblingsbeispielen, weil sie nachvollziehbar aus der Singfreude musizierender Schulklassen inspiriert und entsprechend entwicklungsgerecht maßgeschneidert erscheinen. – Besonders in der Besetzung mit gleichen Stimmen bieten sie einen musikalischen Zauber, der an Vorbilder wie Hugo Distler erinnert, einen der großen Meister einer neuen, dynamisch-transparenten Vokalpolyphonie im 20. Jahrhundert. 

Zu den Neuerungen gegenüber der früheren Ausgabe ist zu erwähnen, dass 15 neue Sätze dazugestoßen sind zu Liedern, die vorher einstimmig erschienen, 4 Sätze wurden ausgetauscht und 27 der weiteren Sätze wurden verbessert und ergänzt. Ganz neu eingearbeitet sind die Kanonfassung von »Jeden Morgen geht die Sonne auf«, »Dies wisse, o Mensch« nach Heinrich Kaminski und die zweite Hälfte des berühmt gewordenen Rilke-Kanons »Ich lebe mein Leben« mit den Worten »Ich kreise um Gott«. Bei acht Liedern wurden die Texte ergänzt, so bei dem »Bauerngarten«, der früher sechs seiner sieben Strophen entbehren musste. Insgesamt wurde sehr sorgfältig bis ins Detail hinein verbessert und ergänzt, so dass gegenüber der ersten Auflage ein neues Reifestadium erlangt ist. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in der Preisgestaltung, wurde doch mit dem Ladenpreis von 24 Euro gegenüber den früheren 64 Mark auf eine konkurrenzfähige Preisgestaltung gesetzt.

In dem aktuellen Vorwort von Peter-Michael Riehm wird über den Begriff »Volkslied« nachgedacht: »Je mehr die Vernetzung mit anderen Kulturkreisen voranschreitet, desto wichtiger wird die Kenntnis des eigenen. Brüderlichkeit unter den Menschen wird nicht über die Politik bewirkt, sondern primär über die Kultur. Der politische Staat (oder Staatenbund) kann nur den Schutzraum für die gegenseitige Annäherung der Menschen gewährleisten, die sich über kulturellen Austausch vollzieht. Aber dazu müssen wir Gebende werden können! Es geht dabei nicht um den vielzitierten Toleranzbegriff, sondern um gegenseitige ›Umfassung‹, wie Martin Buber dies in seinen pädagogischen Reden ausführt.«

Es ist dem Liederbuch zu wünschen, dass es u.a. an allen Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen sowie Lehrerseminaren seine Verbreitung erfährt und dazu führt, dass das mehrstimmige Singen in künstlerisch und pädagogisch gehaltvollen Sätzen einen kontinuierlichen Aufschwung erlebt. Als kerniger Kontrapunkt zu den Fast-Food-Liederbüchern möge damit das musikalische Ernährungsbewusstsein ein wenig einem aufgeklärten Ernährungsbewusstsein insgesamt nachziehen!

Stephan Ronner

 

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