Andreas Gross

Luzies Welt. Auf der Suche nach einem neuen Denken

318 S., pb., € 14,90. Verlag Neue Literatur, Jena 2004

 

Luzie, gerade 16 Jahre alt geworden, ist die Heldin des Romans. »Warum ist etwas und warum ist nicht nichts?«, dieser ein wenig verquere Satz (nach Heidegger) aus Luzies Schule ist die philosophische Ausgangsüberlegung des Buches und führt Luzie auf den Weg des traditionellen europäischen Denkens von den Anfängen bis hin zu den Denkern der Gegenwart. Also von den Vorsokratikern über die Erkenntnistheorien eines Descartes und Kant, Schelling, Fichte bis hin zur Relativitätstheorie eines Einstein und den neuesten Ergebnissen und Hypothesen der Physik, den »String«-Theorien und der Betrachtung der Welt als ungeteiltes Ganzes. Dass Luzie noch dazu im dramatisch sich zuspitzenden Schlussteil des Buches in die virtuellen Welten eintaucht, kaum noch die Realität von der Scheinwelt unterscheiden kann und das Scheinbare zu einer höheren Wirklichkeit mutiert, macht nicht zuletzt den Reiz des Buches aus.

Worum geht es? Um nichts Geringeres als um das Fortbestehen der allseits bedrohten Menschheit. Wohin das abendländische Denken in Philosophie und Wissenschaft geführt hat, wird gefragt. Die reinen Erkenntniskräfte von Philosophie und Wissenschaft scheinen nicht auszureichen, wenn die Sinnfrage des Ganzen damit nicht beantwortet werden kann. Die Frage nach dem Sinn wird somit zum Leitmotiv des Romans. Geschickt beginnt der Autor den Roman mit einem scheinbar harmlosen Unfall seiner Heldin. Luzie stößt sich beim Tanzen heftig den Kopf, wird besinnungslos und erinnert später – wieder bei Bewusstsein – einen leichten Schwindel. Anthroposophisch gesprochen haben sich der Äther- und der Astralleib kurzfristig voneinander gelöst, was zu einer veränderten Wahrnehmung führen kann. Auch der Name der Heldin, Luzie, ist mit Raffinesse gewählt, wer denkt dabei nicht an Luzifer, den gefallenen Engel und Lichtbringer?

Ähnlich wie Jostein Gaarders Buch: »Sophies Welt« – Andreas Gross beruft sich nachdrücklich auf Gaarder – ist dieser Roman aufgebaut. Luzie bekommt Botschaften von einem Unbekannten, der mehr und mehr ihr Interesse erregt. Durch die kurze Anfangsepisode über Luzies Kopfverletzung bleibt offen, ist Luzies Welt eine reale oder phantastische? Ihre Erlebnisse im letzten Teil des Romans, die zu virtuellen Kontakten zu den verstorbenen Geistesgrößen der Menschheit führen, sind sie nur ein Traum? Oder ermöglicht die Entwicklung der Verstandes- und Erkenntniskräfte diese Art des Wahrnehmens und Denkens?

Die Botschaften, sie werden hier Lektionen genannt, da sie aufeinander aufbauen, dienen nicht nur der Wissensvermittlung, sondern stellen eine Art Schulung dar. Luzie soll auf diesem Wege für eine höhere Aufgabe vorbereitet werden und die Welt vor der zunehmenden Entseelung retten. Wie, das bleibt bis gegen Ende des Romans offen.

Die verschlungenen Wege des abendländischen Denkens als Ideen- und Wissenschaftsgeschichte darzustellen bis hin zur heutigen Widersprüchlichkeit der Systeme in der Forschung, ist ein schwieriges Unterfangen. Man vermutet belehrende Langeweile mit romanhaften Versatzstücken. Liest man sich in den Roman von Andreas Gross ein, so ist man von der Frische der Sprache, die durchaus in das Jugendmilieu und die Befindlichkeit der Jugendlichen passt, überrascht. Die Lektionen selbst, immer wieder unterbrochen durch die Denk- und Verhaltensmuster der 16-jährigen Luzie, sind spannend geschrieben. Die Wissenschafts- und die Philosophiegeschichte werden kritisch, ohne ideologische Enge aufbereitet, und die Grundpositionen von Idealismus und Materialismus, von Zweckrationalität und Spiritualität stehen sich – so scheint es – unversöhnlich gegenüber. Doch dass sich in der Neuzeit der Materialismus durchsetzte, heißt nicht, und darauf zielt der Roman, dass Welt und Mensch materialistisch erklärbar geworden sind.

In den letzten Kapiteln dramatisiert sich das Geschehen. Durch die neuesten Erkenntnisse der Physik geraten deren materialistische Grundlagen selbst in Widersprüche, der Ausweg deutet auf eine allumfassende Geistigkeit hin. Parallel zu den dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnissen bekommt die Handlung utopische Züge. Die Widersachermächte treten auf, Luzie gerät in ihre Gewalt. Diese dunklen Mächte wollen der Menschheit einen »Heilsweg« oktroyieren, und Luzie muss das, was sie philosophisch diskutiert hat, jetzt in der Handlung entscheiden: Hat der Mensch einen freien Willen, und sollte er ihn auch trotz schwerwiegender Nachteile beibehalten? Und: das Denken selbst muss sich ändern. »Angesichts der bedrohlichen Entwicklung der Ökosphäre und des menschlichen Zusammenlebens auf diesem Planeten ist die Sinnfrage zu einer Überlebensfrage geworden. Wir müssen weiter denken, als wir es gewohnt sind – und vielleicht sogar als wir es können« (S. 240 f.).

Die Ereignisse spitzen sich zu. Eine große Konferenz wird auf virtuellem Wege einberufen, auf der die großen Denker der Menschheit auftreten, und in diesem illustren Kreis ist, der Leser staunt, Rudolf Steiner mit dabei. Luzie entkommt durch ihre Willensenergie, die sie auf dem Schulungsweg erworben hat, den Widersachermächten und widersteht der großen Versuchung, an deren Macht teilzuhaben. Sie findet schließlich das Schlüsselwort, das Passwort für ein geheimnisvolles Computerprogramm, dessen Kraft den Menschen einen neuen Impuls geben soll. Wie das geschieht und zu welchen Erkenntnissen Luzie schließlich kommt, soll hier nicht verraten werden.

Andreas Gross ist Gymnasiallehrer und hat sich, so die Autorennotiz, von seinen Erfahrungen im Ethikunterricht der Oberstufe inspirieren lassen mit dem Anliegen, »den He-ranwachsenden in einer zunehmend unüberschaubaren und als sinnlos empfundenen Welt ein Stück erfahrbare Sinnhaftigkeit zu vermitteln.« Das ist gelungen – und nicht nur für Jugendliche.

Achim Hellmich

 

Zurück zu                Hauptseite-Titel                 Hauptseite-Rezensenten