Andreas Neider (Hrsg.)

Lernen aus neurobiologischer, pädagogischer, entwicklungspsychologischer und geisteswissenschaftlicher Sicht

Mit Beiträgen von Gerald Hüther, Henning Köhler, Georg Kühlewind, Eckhard Schiffer und Hartwig Schiller. 99 S., kart. € 12,50. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004

 

Der Band dokumentiert fünf Vorträge, die beim Kongress »Wie Kinder lernen« im Januar 2004 vor über 600 Besuchern gehalten wurden. Angesichts der durch die PISA-Studie ausgelösten, vielfach oberflächlichen und einseitigen Reformmaßnahmen werden hier aktuelle Erkenntnisse über die kindliche Entwicklung vorgestellt, die die öffentliche Diskussion wesentlich vertiefen dürften.

Schon der erste Beitrag »Salutogenetisches Lernen – dem Lernen nicht die Freude austreiben« (von E. Schiffer, Psychotherapeut) stellt eindringlich dar, welche »Schätze« Kinder beim Spielen, beim Dialog mit der Umgebung entdecken können, z.B. Lebens- bzw. Lernfreude, Friedensfähigkeit, Kreativität und Gesundheit. Kinder lernen aus innerem Antrieb; die Anforderungen des Lebens können sie mit Hilfe eines gesund entwickelten »Kohärenzgefühls«, des Vertrauens in die Welt und zu sich selbst positiv bewältigen. Besonders berührt haben mich die Untersuchungen über das »dialogische Lächeln« zwischen Kleinkind und Eltern; bis zu 30.000 solcher Lächelbewegungen finden in den ersten sechs Lebensmonaten statt. Diese liebevolle Zuwendung schützt das Kind vor seelischen Angriffen aus seiner Umwelt und später auch vor den Belastungen des Lebens. Schiffer stellt noch weitere Elemente salutogenetischer Entwicklung, z.B. innere und äußere Bilder, kindliches Sprechen, lebensnah und humorvoll dar; Leitbegriffe sind Lebensfreude, Selbstempfinden und Identität. 

Vieles wird dem gefühlssicheren Erzieher selbstverständlich erscheinen. Nur wird es eben jetzt schulwissenschaftlich erforscht und – mit zunächst etwas befremdlichen Fachbegriffen – belegt. So wird es doppelt überzeugend.

Ähnlich ergeht es dem Leser bei G. Hüthers Beitrag. Er gibt faszinierende Einblicke in die moderne Gehirnforschung. Gegenüber deterministischen Vorstellungen von einer genetischen Festlegung der Hirnstrukturen sind seine Erkenntnisse revolutionär: Genetisch sind nur die Potenzen angelegt, aber die Gehirnentwicklung ist »in hohem Maße von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz« der erwachsenen Bezugspersonen des Kindes abhängig. Das heißt, wie das Kind seine Umwelt – vor allem die menschliche – erlebt, wie es angeregt wird, wie es sich betätigen kann usw., so formt sich das Gehirn aus. Mangelnde emotionale Zuwendung und Bindungsstörungen lassen gewisse Bereiche des Zentralorgans unterentwickelt, ja verkümmert, so dass statt Selbstvertrauen und Lebenssicherheit später Angst, Orientierungslosigkeit, Aggression usw. überhand nehmen. Hüther führt zahlreiche alltägliche Beispiele an, die vom ersten Lebenstag bis in die Pubertät reichen. Die Fähigkeitsschätze, die in den Kindern schlummern, müssen herausgelockt, gepflegt, optimiert werden. Aber das ist nur mit menschlichem Einsatz möglich. Im Lichte solcher Tatsachen müssen Eltern und Erzieher ihre Verantwortung neu und sehr bewusst sehen und praktizieren.

Die drei anthroposophisch orientierten Autoren richten ebenfalls den Blick auf die Bedingungen, unter denen sich jedes einzelne Kind »zu sich selbst« entwickeln kann. G. Kühlewind fordert für die »neuartige« Kindergeneration (»Sternkinder«) mehr Unvoreingenommenheit und Verständnis. Der Kinder- und Jugendtherapeut H. Köhler beschäftigt sich in »Ehrfurcht vor dem Schicksal des Kindes« und fragend (»Wer bist du?«) mit den Heranwachsenden. H. Schiller bewegt die Frage »Lernen Kinder im Schlaf?«

In unserer Gesellschaft muss ein neuer pädagogischer Aufbruch in Gang kommen, ausgehend von einer Menschenerkenntnis, zu der Universitätswissenschaft und anthroposophische Menschenkunde gemeinsam beitragen können. Diese Botschaft des Buches mag die einen auf ihrem Weg bestärken, andere wird sie hoffentlich aufrütteln und zu einem gründlichen Umdenken bewegen.

Gottfried Lesch

 

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