Peter Loebell

Ich bin, der ich werde. Individualisierung in der Waldorfpädagogik

221 S., kart. € 19,90. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004

Mit diesem ansprechenden Titel ist die Sekundärliteratur zur Waldorfpädagogik um ein erfreuliches Buch gewachsen. War Peter Loebells Erstling, seine Doktorarbeit, notwendigerweise eher theoretischer Natur, so atmet dieses zweite Werk ein wohltuendes Gleichmaß zwischen gewonnener Erkenntnis und gesättigter Praxiserfahrung.

In der heutigen Bildungsdiskussion herrscht ein merkwürdiges Hin und Her zwischen der Idee der Notwendigkeit der kindlichen Individualisierung und dem scheinbaren Widerspruch, diese Individualisierung durch Erziehung in der Klassengemeinschaft herbeiführen zu können. Daher lautet der Untertitel dieses Werkes auch »Individualisierung in der Waldorfpädagogik«. Denn viele Menschen sprechen der Waldorfpädagogik diese Fähigkeit, das Individuelle im Kinde zu fördern, ab. Schon daher bildet dieses Werk ein bedeutendes Korrektiv gegenüber landläufiger Meinungsbildung.

Gleich im Eingangskapitel zeigt sich ein Vorzug dieses Buches. Der Verfasser scheut sich nicht, die Quellen der Waldorfpädagogik zu befragen und zu interpretieren, um daraus zu eigenen Sichtweisen zu kommen. Die »erste Schulstunde«, exemplarisch von Rudolf Steiner vorgetragen, wird analysiert  Diese Analyse gibt eigentlich schon das Programm einer individualisierenden Pädagogik vor. Sieben didaktische Motive werden benannt: Wandlung (»ihr werdet einmal das können, was ihr jetzt noch nicht könnt«), Nachfolge (hinschauen, was Ältere schon können), Liebe zur Autorität (das vom Lehrer lernen, was man erst später begreift), erwachendes Bewusstsein (sich bewusst werden dessen, was man schon gelernt hat), Arbeit als Ausdruck des Menschlichen überhaupt (man hat die Hände zum Arbeiten), Üben von Fähigkeiten (das Kind sollte sich von Anfang an Mühe geben, das Gelernte mit einer »gewissen Vollkommenheit« zu beherrschen), die Erwartung und die Freude am Tun (»Dadurch prägt sich in das Kind die Hoffnung aus, der Wunsch, der Vorsatz, und es lebt sich durch das, was sie selber tun, in eine Gefühlswelt hinein, die wieder Ansporn ist zur Willenswelt.«) Sieben Schritte, die allein schon ein ganzes Programm individualisierten, pädagogischen Wirkens in der Klassengemeinschaft in sich bergen. Und so sieht man auch das Programm dieses Buches vor sich, aus der ernsthaften Beschäftigung mit einer einzigen Quelle.

Sogleich werden wir aber in die Welt der pädagogischen Wirklichkeit geführt. Ein (außerschulisches) »Problem« ist in der Klasse mit einem Schüler entstanden und der Lehrer wird gebeten, dieses zu lösen. Die Lösung wird dadurch herbeigeführt, dass der Lehrer nicht allgemein normativ eine Belehrung oder Bestrafung vornimmt, sondern sich so mit dem Eigenen, Individuellen des Schülers befasst, dass er durch eine »sinnige Geschichte« lösend einwirken kann. (Diese Vorgehensweise ist bedeutend, denn gerade auf dem Grenzgebiet von Strafen oder Nichtstrafen erkennen wir die Fähigkeit, die Originalität, das Einfühlungsvermögen des Lehrers.) Ein zweiter, rein pädagogischer Problemfall wird dargestellt und durch das gemeinsame Streben von Eltern und Lehrer nach Erfassen des Wesens des Kindes gelöst. Der Ton des Buches ist damit gesetzt: Nicht nur in Bezug auf die Erziehung, sondern auch beim eigentlichen Lernen stellt die genaue Wahrnehmung der kindlichen Individualität eine entscheidende Grundlage für das pädagogische Wirken dar.

Die nun folgenden Kapitel sind Ausarbeitungen dieser Grundlage. »Individualisierung in der Schule« schildert den Weg des Lehrers zum tatsächlichen Sehen und Erleben der Individualität des Kindes. Ein zeitgemäßer Abstecher wird zur Frage der so genannten »Hochbegabten« in der Schule gemacht. Wie unterrichtet man vom Kinde aus und wie gestaltet sich die »Ich-Erfahrung«? Hierzu gibt der Verfasser ein lehrreiches Beispiel, wieder aus den Quelltexten heraus, nämlich Rudolf Steiners Wut und Enttäuschung darüber, wie mit einem Schüler umgegangen worden war, den er der Lehrerschaft besonders ans Herz gelegt hatte, um ihn seiner Individualität gemäß zu erziehen. Dem Zeugnis dieses Schülers konnte er nichts entnehmen, was diesen Jungen kennzeichnete. Auf diesem Weg werden wir zu einem überaus fruchtbaren Gedanken geführt, den des doppelten Antlitzes des Ich. Das Ich als tätiges Subjekt, von dem alles Handeln ausgeht, und das Ich als Ziel der Entwicklung. 

Das Kapitel endet mit einer durchaus originellen und reichen (weil zum Teil neuen) Darstellung des menschlichen Temperaments. Auch einem erfahrenen Lehrer können hier neue Einsichten geschenkt werden. Nicht das ›Schubladisieren‹ des kindlichen Temperaments ist die erste Forderung, sondern die Selbsterkenntnis des eigenen Habitus. Beherzigung des Letzteren wirkt wohltätig auf das pädagogische Klima im Klassenzimmer und ebenso auf das soziale Klima des Lehrerkollegiums.

Das zweite große Kapitel führt uns aus dem Klassenzimmer heraus zur heute drängenden Frage nach dem Auftrag der Pädagogik im gesellschaftlichen Wandel. Durch ein dreifaches, künstlerisch beschriebenes Okular werden wir uns der rasanten Veränderungen bewusst, denen wir ausgesetzt sind. Wie sah die Kindheit unserer Großeltern aus? Wie die Kindheit unserer Eltern, wie sieht Kindheit heute aus?

Oft wirken Texte aus anthroposophischer Sicht, die sich mit dem Heute befassen, urteilend und in Folge verurteilend. Oft wird das Gefühl vermittelt, das Geschriebene mag zwar wahr sein, aber es bringt mich nicht weiter. Peter Loebell tappt nicht in diese Falle, wodurch die ganze Darstellung etwas Erfrischendes erhält. Er zitiert Zeitzeugen, deren Darstellungen oft einen für die Zeitlage symptomatischen Charakter haben, welche den Leser nachdenklich machen. (So zum Beispiel die Darstellung des Dialogs aus »Draußen vor der Tür« von Wolfram Borchert und die Gegenüberstellung der Qualität des Gesprächs aus Goethes Märchen.) Das umfangreich gestaltete Kapitel soll hier nicht im Detail dargestellt sein, man muss es lesen wie eine Übung zu dem Satz: Der Lehrer soll ein Mensch sein, der Interesse hat für alles weltliche und menschliche Sein.

In den hierauf folgenden Kapiteln geht der Weg wieder nach innen. Da ist das kleine Kapitel über »Aufmerksamkeit und Interesse im Unterricht des Klassenlehrers«, in dem die drei tief bedeutsamen Lebensabschnitte, das Entfalten der Begabung, das Leben aus der Begegnung und dem Leben aus der Erfahrung in der Charakteristik Rudolf Steiners dargestellt werden. Man kommt damit einem pädagogischen Karmaverständnis sehr nahe.

Viele Unterrichtsbeispiele und Exkurse in die Regelwissenschaften findet man im Kapitel über die »Evidenzerfahrung im Lernen«. Eine kleine Bemerkung dazu: In gewisser Weise hoffte man, dass nicht nur die Evidenzerfahrung des Lernens, sondern auch die des Lehrens hier einen Platz fänden. Dass dieses nicht der Fall ist, erklärt sich wahrscheinlich aus der Tatsache, dass das ganze Buch hilft, Evidenzerfahrung aus dem erzieherischen Handeln zu ziehen.

Die abschließenden Kapitel befassen sich mit der »Umwendung der menschlichen Natur« durch die Jahre des Wachstums und der Reife. Zum Schluss beschreibt der Autor die Lernstile nach Dawna Markova, die ja aus der »Menschenkunde« verstanden werden können. Der visuelle, der auditive und der kinästhetische Lernstil und deren Präsenz in den verschiedenen Bewusstseinszuständen des Schülers. Nach einigen Umwegen kommt dann das Werk wieder zum Anfang zurück: Der Schlüssel zum Individualisierungsprozess liegt im Erkennen des Kindes durch den Lehrer.

Wir haben eine Darstellung vor uns, die wir Lehrern, Eltern und allen Menschen, die sich die Bildung zum Anliegen gemacht haben, aufs Wärmste empfehlen wollen.

Christof Wiechert

 

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