Oliver Hirschbiegel (Regie)

Der Untergang
Film:  Deutschland 2004, 155 Minuten
Darsteller:  Bruno Ganz, Alexandra Maria Lara, Juliane Köhler, Ulrich Matthes etc.

»Der Untergang ist viel bewegender als andere Spielfilme und braucht länger, um verarbeitet zu werden.« »Man sieht Hitler zum ersten Mal als Person, nicht nur als Monster.« »Die wahre Seite Hitlers tritt hervor.« »Ekel, fast musste ich den Saal verlassen. Zeitweise wusste ich nicht mehr, was ich machen sollte, ich wollte dieses Geschrei nicht mehr hören.« »Als eine der aufwühlendsten Szenen empfand ich den Kindermord der Familie Goebbels.« Diese Äußerungen von Balinger Waldorfschülern der 11. Klasse am Tage nach dem Kinobesuch zeigen, dass es Produzent Bernd Eichinger und Regisseur Oliver Hirschbiegel gelungen ist, mit ihrem ungewöhnlichen Blick auf Adolf Hitler und die Führungsclique des NS-Regimes das jugendliche Publikum zu erschüttern und bis zur Schmerzgrenze zu bewegen. Da sich der Constantin Film-Verleih mit 400 Kopien, die Mitte September in die deutschen Kinos kamen, und mit begleitenden Unterrichtsmaterialien massiv an die Schulen wendet, möchte ich die Frage nach dem pädagogischen Nutzen des historischen Dramas in den Mittelpunkt stellen. Der Film versucht nach Eichingers Worten in einem »Zeitraffer«, anhand der letzten Kriegstage 1945 in Berlin, etwas »über das ganze Regime« zu erzählen. Er tut dies aus einer im Vorfeld sehr umstrittenen Perspektive. Weniger der Diktator als der Mensch Hitler steht im Zentrum. Obwohl die Fakten bis ins Detail recherchiert sind, bleibt die Gestalt natürlich ein Konstrukt. Wir sehen einen mit sprachlosen Generälen zeternden alten Mann im Führerbunker, tief gebeugt über den Stadtplan von Berlin. Oder bei der Ordensverleihung im Hof, wo der Führer Hitler-Jungen aus dem Volkssturm die Wange tätschelt. Solche Bilder sind aus Geschichtsbüchern bekannt. Aber Bruno Ganz, der mit dem Titelhelden ganz verschmilzt, führt uns weit darüber hinaus in eine intime Nähe zu Hitler. Wie er das jüngste der sechs Kinder des Propaganda-Ministers Goebbels, die »Onkel Hitler« ein Lied singen, auf dem Schoß hält, dem Schäferhund Blondi das Ohr krault und seine ängstliche Sekretärin Traudl Junge (Alexandra Maria Lara) beruhigt. Wie er nach der skurrilen Trauung in der letzten Nacht (»Mein Führer, sind Sie arischer Abstammung?«) den gemeinsamen Selbstmord mit Eva Braun (Juliane Köhler) vorbereitet und sich dabei besorgt die sicherste Todesart erklären lässt, bevor er der Köchin beim letzten vegetarischen Mahl ein Kompliment macht. Kann man den abrupten Wechsel zwischen dem fürsorglichen, bisweilen charmanten Alten und einem monologisierenden Phantasten ertragen, dessen Blindheit gegenüber der Realität Grauen erregt? Die Absurdität seiner Träume vom Endsieg, von einer Befreiung Berlins durch General Wenck wird durch die zweite Handlungsebene des Filmes schonungslos offen gelegt: den blutig inszenierten Häuserkampf mit der russischen Armee, der in den Straßen Berlins tobt. Ein sinnloses Gemetzel an Zivilisten und bleichen Hitlerjungen, das die Verantwortlichen nicht einmal davon abhält, »Fahnenflüchtige« liquidieren zu lassen. Während Nebenfiguren wie der selbstlos agierende SS-Arzt Schenk aus Mitleid Verantwortung übernehmen – etwa im Lazarett-Bunker –, bleibt die Verantwortungsfrage im Führerbunker ein Vakuum. Alle Verantwortungsträger flüchten: in Ideologie, Alkohol oder Selbstmord. Insofern ist der Film eine erschütternde Studie über Verführung und Verdrängung, über Realitätsverlust und Kadavergehorsam. »Wenn der Krieg verloren geht, ist es vollkommen egal, wenn das Volk untergeht.« Während Hitler gebetsmühlenhaft sozialdarwinistische Parolen ausgibt, fühlen sich seine Treuesten wie Magda und Joseph Goebbels oder die Generäle Jodl und Keitel auch im Untergang nur dem Führerbefehl verpflichtet. So ist die maskenhaft auftretende Magda Goebbels sogar in der Lage, ihre sechs kleinen Kinder im Schlaf mit Zyankali zu vergiften. Diese Szene soll den Schauspielern während der Dreharbeiten Tränen in die Augen getrieben haben. Muss, darf, kann man einen solchen Film Jugendlichen zwei Generationen nach Kriegsende zumuten? Die offizielle Altersfreigabe ab 12 Jahren ist gewiss unverantwortlich. Aber auch für 16-Jährige können Bilder eine Macht entwickeln, die sich durch intensive Bearbeitung kaum brechen oder auflichten lässt. Wer aber mit sorgfältigem Blick auf die eigene Klasse einen Besuch wagt und im Gespräch auch ganz persönlichen Gefühlen Raum geben kann, der findet hier Material, um an innerste Fragen über das Rätsel des Bösen im 20. Jahrhundert heran zu kommen. Gewiss wird sich der Zuschauer wiederfinden in den weit aufgerissenen Augen von Hitlers jugendlicher Sekretärin Traudl Junge, die im Abspann der Filmhandlung als alte Frau, fast 60 Jahre nach dem Geschehen, dessen engste und unbelastete Augenzeugin sie war, darüber nachdenkt, »… dass das keine Entschuldigung ist, dass man jung ist, sondern dass man auch hätte vielleicht Dinge erfahren können.« Ohne ein solches Nachdenken ist das düstere Epos eine Zumutung.

Holger Grebe

 

Zurück zu                Hauptseite-Titel                 Hauptseite-Rezensenten              Home