Christophe Barratier (Regie)

Die Kinder des Monsieur Mathieu

Film: Frankreich 2003.  Darsteller: Gerard Jugnot, Francois Berleand. 95 Min.

 

Das große schmiedeeiserne Tor öffnet sich nur langsam – ein Schwellenübergang in eine andere Welt.  Am Tor steht ein kleiner Junge, der sehnsüchtig auf den Samstag und auf seine Eltern wartet. Doch es ist weder Samstag, noch werden seine Eltern kommen, denn er hat keine mehr.

Das ist der Beginn des neuen französischen Films von Christophe Barratier, der im Original »Les Choristes«  heißt. In gedämpfter Farbgebung ist er gedreht, eine Bilderstimmung, Rembrandts Gemälden ähnlich, und das trifft auch die seelische Grundstimmung des Films.

Fast nostalgisch mutet dieser Film an. Er erzählt in ruhiger Kameraführung und voller Gefühlstärke die Geschichte eines liebenswerten Außenseiters, des Hilfslehrers Mathieu, der mit dem Schritt durch das Schulgartentor vor die größte Herausforderung seines Lebens gestellt wird.

Wie kann man ein Internat führen, in dem schwer erziehbare Jungen aus unterschiedlichem Milieu und Alter zusammen kommen? Mit Drill und Härte! – das meint jedenfalls der unbeugsame Direktor Rachin. Wir schreiben das Jahr 1949, und nicht nur in Frankreich waren das die weitgehend akzeptierten und praktizierten Erziehungsmethoden. »Aktion – Reaktion« ist die Devise des Direktors. Jede abweichende Handlung eines Schülers wird sofort, ohne Diskussion und Aufklärung des Hintergrundes, bestraft.

Eines Tages tritt also der Hilfslehrer Mathieu durch das Schultor, überschreitet die Schwelle, kommt auf diese pädagogische Insel und löst einen Kollegen ab, der ihn bedauernd anschaut. Gleich in der ersten Begegnung mit dem Direktor und den Schülern bekommt Mathieu einen nachhaltigen Eindruck von den Herrschaftsstrukturen des Internats. Zunächst sind die Schüler dem neuen Hilfslehrer gegenüber misstrauisch, sehen in ihm einen weiteren Feind, den es auszutricksen und zu bekämpfen gilt. In einem in sich geschlossenen System gibt es keine Abweichung, jedes abweichende Verhalten wird als Schwäche empfunden, nicht nur von den Lehrern, sondern auch von den Schülern. Dressur kennt keine Menschlichkeit, und diese stirbt in der Unfreiheit. So hat der Hilfslehrer, der in Frankreich Pedell heißt, keine Chance. Wäre da nicht die Kunst und Mathieus Empfindsamkeit gegen Unrecht und Gewalt. Es ist nämlich nicht die Kunst allein, die den Menschen »veredeln« kann. Es bedarf immer eines »edlen« Menschen, der es vermag, in der Seele des anderen eine künstlerische Empfindung aufblühen zu lassen. In diesem Fall ist es die Musik, der Gesang, die Chormusik, die das System der Härte erschüttert. Und es sind die Kinder, die langsam erwachen und deren Seelen sich durch das gemeinsame Singen öffnen. Durch abweichende Lernmethoden und den Verzicht auf Bestrafung hatte Mathieu die Kinder bereits verunsichert, doch erst durch das Chorsingen, mühsam und in ernsthafter Arbeit eingeübt, gibt er ihnen ein Ich- und ein Wir-Gefühl.

Der Film fängt sehr realistisch die Phasen der »schwarzen« Pädagogik, die Eitelkeiten der Macht, die Verstörung der Seelen und deren Heilung ein. Es ist die Stärke des Films, diese Brüche und Übergänge in eindrücklichen Bildern, aber auch in immer wieder humorvollen Episoden zu zeigen und diese Geschichte insgesamt zwar nicht scheitern zu lassen, aber auch zu keinem »Happyend« zu führen. 

Nichts wird verkitscht oder klischeehaft verzerrt, und die leichte Romantisierung, die sich beim Chorsingen einstellt, schafft einen legitimen Ausgleich zu den harten Methoden der Bestrafung.

Monsieur Mathieu wird gegen Ende des Films wieder durch das große schmiedeeiserne Gartentor gehen, entlassen, fortgeschickt. Wieder steht der Junge an diesem Tor und wartet auf seine Eltern. Monsieur Mathieu steigt in den Autobus, der Junge läuft ihm nach, bittet, mitkommen zu dürfen. Mathieu wehrt ab, der Bus fährt los. Eine kleine Strecke nur, dann reicht Mathieu dem Jungen die Hand zum Einsteigen …

Achim Hellmich

 

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